Bis vor fünf Jahren gingen alle davon aus, dass der Ort im Jahr 772 erstmals erwähnt wurde, doch der Kreisarchivar Clemens Joos entdeckte im Laufe seiner Recherchen im Vorfeld des Jubiläums Interessantes: Der größte Donaueschinger Stadtteil kann erst in diesem Jahr sein Jubiläum feiern. Der Grund: Die Urkunde mit der erstmaligen Nennung Wolterdingens wird von der Forschung mittlerweile neu datiert.
Clemens Joos erklärt: „Als ‚Uuuldartingas‘ wird Wolterdingen in einer Urkunde des Klosters St. Gallen aus dem achten Jahrhundert erstmals genannt. Es ist keine ‚Geburtsurkunde‘, sondern der ‚Taufschein‘ Wolterdingens.“ Denn „Uuuldartingas“ wird darin als eine schon bestehende Siedlung beschrieben. Verfasst wurde diese Urkunde von einem Schreiber namens Waldo. Wie viele Urkunden dieser Zeit, ist sie allerdings nicht genau nach Jahreszahlen datiert, sondern weist mehrere Datierungselemente auf, die der Forschung bis heute Kopfzerbrechen bereiten.
Das wichtigste davon ist die Einordnung in das vierte Regierungsjahr König Karls (des Großen). Das hört sich eindeutiger an, als es tatsächlich ist: Zählte Waldo vom Jahr 668 an, als Karl König des nördlichen Reichteils wurde, oder von 771, als ihm nach dem Tod seines Bruders Karlmann auch das südliche Frankreich zufiel, in dem das Kloster St. Gallen lag?
Während die älteste Forschung im 17./18. Jahrhundert von 771 ausging und die Urkunde in das Jahr 775 setzte, bevorzugte Hermann Wartmann, der 1863 den ersten Band des „Urkundenbuches der Abtei Sanct Gallen“ bearbeitete, das Jahr 768 und datierte die Urkunde folglich auf 772. Aber auch Wartmann war sich seiner Sache nicht ganz sicher, denn er setzte vorsichtshalber 775, in Klammern, dahinter. Wartmanns Urkundenbuch sollte beinahe 100 Jahre maßgeblich bleiben, und so blieb es auch bei der Datierung „772 (775)“, beispielsweise in dem 1885 erschienenen fünften Band des „Fürstenbergischen Urkundenbuches“. Der Autor der Wolterdinger Chronik, Emil Hauger, entschied sich für 772. So hat sich in Wolterdingen die vermeintlich eindeutige Datierung 772 eingeschlichen, während die Wissenschaft weiter über Waldos Urkunden brütete.
Seit 1983 entsteht nun in St. Gallen unter der Ägide von Otto P. Clavadetscher, Professor Stefan Sonderegger und Stiftsarchivar Peter Erhart eine groß angelegte Neuedition der mittelalterlichen Urkunden des Klosters, „Cartularium Sargallense“ , in der jede einzelne noch einmal auf dem neuesten Stand der Wissenschaft untersucht, beschrieben und ihr Text übertragen wird. Der 2013 erschienene erste Band des „Chartularium“ zu den Jahren 700-800 behandelt auch die Urkunde Waldos und kommt zum Ergebnis, dass Waldo von 771 an zählte und die Wolterdinger Urkunde somit in das Jahr 775 zu datieren ist.
Bild: Stiftsarchiv St. Gallen, Urkunde I 51 (https://www.e-chartae.ch/de/charters/view/51)
Anita Reichert